Zahl depressiver und traumatisierter Flüchtlinge nimmt zu

Der Fall des Hamburger Messerstechers Ahmad A. deutet auf ein Problem der deutschen Flüchtlingspolitik hin: Psychisch auffällige Asylbewerber werden nicht ausreichend betreut.

 

Es war Anfang vergangenen Jahres, als Freunde eine deutliche Wesensveränderung an Ahmad A. bemerkten. Mal zog sich der in Saudi-Arabien geborene Palästinenser tagelang zurück, trank keinen Alkohol und kiffte nicht mehr. Er ging dann öfter in die Moschee und beschimpfte seine muslimischen Freunde, sie würden die Regeln des Islam nicht befolgen.

Von einem Tag auf den anderen war er aber wieder ganz normal: ein höflicher, nachdenklicher junger Mann, der ab und an für seine Freunde kochte und die Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland nicht aufgegeben hatte. Er sei wohl einfach „psychisch fertig“, dachten die Freunde und Mitbewohner, ein bisschen neben der Spur.

Anderthalb Jahre später stach Ahmad A. in Hamburg-Barmbek mit einem Küchenmesser auf fünf Menschen ein und brachte einen von ihnen um.

Der tragische Fall beleuchtet ein Problem der deutschen Flüchtlingspolitik: Obwohl die Zahl psychisch auffälliger Flüchtlinge in Deutschland wächst, hinkt ihre Betreuung dieser Entwicklung weit hinterher. Bei Ahmad A. war das fatal. Trotz vieler Hinweise auf seine Ausfälle, kümmerte sich offenbar kein Psychologe um ihn, kein Arzt (lesen Sie dazu die Geschichte im SPIEGEL „Der Terror wird hierherkommen“).

Krieg, Folter, der Verlust von Angehörigen, womöglich eine Flucht unter Lebensgefahr – viele Flüchtlinge sind mit traumatischen Erfahrungen nach Deutschland gekommen: 2012 wurden in einer zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Bayern bei 62,3 Prozent aller Ankommenden eine oder mehrere psychiatrische Diagnosen gestellt. Rund ein Drittel aller Flüchtlinge, so belegen wissenschaftliche Studien, leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen – der Wert liegt um das Zehnfache höher als in der deutschen Bevölkerung. Rund 40 Prozent haben Anzeichen einer Depression, Suizidgedanken sind vor allem unter den Männern verbreitet.

Aber auch wer keine traumatischen Erlebnisse mit nach Deutschland bringt, kann hier psychische Krisen entwickeln. Angst und Unsicherheit, sagt Mechthild Wenk-Ansohn, seien dafür der Nährboden.

Seit 23 Jahren arbeitet die Ärztin und Psychotherapeutin in der Ambulanz des Berliner Zentrums „Überleben“. Seit zwei Jahren erreichen sie und ihre 14 Kollegen, die in der Ambulanten Abteilung für die Behandlung von Folteropfern und traumatisierten Flüchtlinge arbeiten, rund 20 Anfragen pro Woche. Viele können sie nur beraten und versuchen weiterzuvermitteln. Die Kapazitäten reichen bei Weitem nicht aus.

„Das beste Heilmittel ist eine klare Perspektive“

Zwar sei die Gesellschaft in den vergangenen Monaten offener geworden für die gesundheitlichen und seelischen Bedürfnisse von Flüchtlingen, sagt Wenk-Ansohn. Zwar habe es auch etwas mehr Geld für Personal und Dolmetscher gegeben, aber die Entscheidungen der Politik erschwerten oft genug die Arbeit der Therapeuten.

Drohende Abschiebung, kein Zugang zu Deutschkursen, der erschwerte Familiennachzug – jede Verschärfung in der Asylgesetzgebung kann die Ärztin direkt an ihren Patienten ablesen. „Mit jemandem, der gerade mitbekommen hat, wie sein Zimmernachbar aus der Unterkunft zur Abschiebung abgeholt wurde, und nun Angst hat, dass er der Nächste ist, mit dem können Sie nicht über seine traumatischen Kriegserlebnisse reden. Als Therapeuten können wir versuchen, einen Halt zu geben.“ Das beste Heilmittel für traumatisierte Geflüchtete sei Wertschätzung, Sicherheit – vor allem aber eine klare Perspektive.

Wer diese nicht hat, wer keine Kurse besuchen und nicht arbeiten kann, wer nur im Heim herumsitzt und keine Aufgabe hat, der fühle sich schnell gedemütigt und wütend, der sei anfälliger für eine psychische Krise – und damit im Extremfall auch für Terrorgruppen wie den „Islamischen Staat“. „Solche Gruppen suchen gezielt die Entwurzelten, die psychisch Labilisierten und geben ihnen vermeintlichen Halt“, sagt Wenk-Ansohn. Sie selbst hat vor Monaten solche Anwerbeversuche auf dem Gelände der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Berlin beobachtet. „Es kamen die Zeugen Jehovas, die Salafisten und sprachen die verzweifelten Wartenden an.“ Der Verfassungsschutz registrierte in diesem Jahr bereits 430 Fälle, in denen Islamisten Kontakt zu Flüchtlingen suchten.

Deshalb müssten die Betreuer in den Heimen für diese Entwicklungen sensibilisiert werden. Verändert sich einer der Bewohner? Zieht er sich zurück? Wird er plötzlich aggressiv? Es fehle vielen Betreuern jedoch Zeit und Fortbildung, um psychisch Belastete zu erkennen, mit ihnen zu sprechen – mithilfe eines Dolmetschers – und sie notfalls an Behandlungsstellen zu vermitteln, sagt die Ärztin.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat bereits im März vergangenen Jahres in einem Positionspapier unter anderen gefordert, die Asylsuchenden bei der medizinischen Erstuntersuchung auch auf psychische Auffälligkeiten hin zu testen und das Personal in den Aufnahme- und Betreuungseinrichtungen für psychische Krankheiten der Bewohner zu sensibilisieren. Viel sei seitdem nicht passiert, sagt Iris Hauth aus dem Vorstand der DGPPN. „Das Land Berlin zum Beispiel hat ein tolles Konzept erarbeitet, mit vielen niederschwelligen Angeboten für Flüchtlinge. Bisher wurde es aber nur ansatzweise umgesetzt.“

Das Problem, sagt Hauth, verschärfe sich von Jahr zu Jahr. Je länger ein Asylverfahren dauere, desto höher sei die Anfälligkeit für psychische Krankheiten. Die Chefärztin einer psychiatrischen Klinik in Berlin Pankow sieht das an ihren eigenen Aufnahmezahlen. In dem Bezirk mit rund 5000 Asylbewerbern seien im vergangenen Jahr 80 Flüchtlinge wegen akuter Krisen aufgenommen worden. Die Zahl sei in diesem Jahr schon nach sechs Monaten erreicht worden.

Die Frage, ob eine rechtszeitige psychologische Betreuung Radikalisierte wie den Hamburger Attentäter Ahmad A. davon abhalten könne, gewalttätig zu werden, lässt sich schwer beantworten. Umgekehrt sagt die Traumatherapeutin Cornelia Reher: Gar nichts zu unternehmen wie im Fall von Ahmad A. ist von allen Möglichkeiten die schlechteste. Reher ist Vorsitzende von Segemi e.V., einem Hamburger Verein, der sich für eine bessere Betreuung für Flüchtlinge und Migranten einsetzt. Von ihrer Arbeit weiß sie, dass die allermeisten der Flüchtlinge, die psychologische Betreuung brauchen, „eher depressiv und ängstlich sind und ganz bestimmt nicht aggressiv“. Ist eine Person radikalisiert, hat sie laut Reher in der Regel kein Interesse mehr an einer Therapie.

Das Problem könnte in naher Zukunft allerdings noch größer werden: Nach der Befreiung von Rakka und Mossul aus der Macht des IS könnten zahlreiche ehemalige Dschihadisten nach Europa zurückkehren. Neben der Überlegung, wie man sie bestrafen muss, stellt sich auch die Frage, in welcher Geistesverfassung sie zurückkommen. Vertreter des „Radicalisation Awareness Network“, einem europäischen Zusammenschluss führender Experten auf dem Gebiet, fordern deshalb in einem aktuellen Bericht eine intensive Untersuchung der Psyche dieser Ex-Kämpfer. Persönlichkeitsstörungen, früherer Drogenmissbrauch, Symptome mentaler Erkrankungen, ein instabiles Umfeld: All das sind für sie Indizien für ein erhöhtes Risiko. Manche der Rückkehrer, so halten die Fachleute nüchtern fest, „werden lebenslange Betreuung benötigen“.

 

Quelle: Spiegel.de