Mehr Mut zu menschenwürdiger Flüchtlingspolitik
Forderungen anlässlich der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus
Bereits zur Abgeordnetenhauswahl im September 2021 legte der Flüchtlingsrat zwei umfängliche Forderungskataloge vor, siehe www.fluechtlingsrat-berlin.de/aktuelles/forderungen. In einzelnen Bereichen gab es in den letzten Monaten Fortschritte, wie zum Beispiel die Aufnahmeregelung für Afghan*innen[1], den Winterabschiebestopp und die Aufhebung der Wohnpflicht für Asylsuchende in Sammelunterkünften. Fast alle unserer Forderungen aus 2021 sind jedoch unverändert aktuell. Akuter Handlungsbedarf besteht vor allem bei der Gewährleistung von menschenwürdigen Mindeststandards bei der Unterbringung Geflüchteter und der wirksameren Unterstützung ihres Zugangs zu Wohnungen, der kindgerechten Unterbringung und Versorgung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter, dem Zugang geflüchteter Kinder zum Schulbesuch, dem Zugang zum Bleiberecht, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen und der Beachtung humanitärer Grundsätze bei der Umsetzung des Aufenthaltsrechts.
Angesichts der Fluchtbewegung aus der Ukraine und gestiegener Asylzugangszahlen verzichten Berliner Behörden bei der Aufnahme Geflüchteter zunehmend auf qualitative und rechtliche Mindeststandards zugunsten kurzfristiger Ad-hoc-Lösungen. Der Flüchtlingsrat fordert mehr Mut für eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik und langfristige Strategien statt Verstetigung eines Katastrophenmodus auf dem Rücken der geflüchteten Menschen.
1) Zugang zu Wohnungen statt Massenunterkünfte, Zelte und Containerlager
Die Unterbringungssituation Geflüchteter in Berlin ist katastrophal: Zelte, Flugzeughangars, beengte Containerlager, überfüllte Massenunterkünfte. Statt den Flughafen Tegel als abgeschottete Massenunterkunft immer weiter auszubauen, braucht es einen Plan für einen schnellen Ausstieg aus dieser Art der Notunterbringung. Die kürzlich erfolgte Aufhebung der Pflicht Asylsuchender in einer Sammelunterkunft zu wohnen ist ein erster Schritt.[2]
Es braucht jedoch sehr viel mehr Engagement des Senats bei der Unterstützung des Zugangs zu Wohnungen. Noch immer diskriminiert Berlins Bausenator zahlreiche Geflüchtete und andere Nichtdeutsche bei der Wohnungssuche, indem ihnen trotz des absehbar dauerhaften Aufenthalts der Wohnberechtigungsschein (WBS) verweigert wird. Sozialämter und Jobcenter verweigern Mietgarantien für die Wohnungssuche, prüfen Mietangebote wochenlang und verschleppen Kautions- und Mietzahlungen. In den Stadtteilen fehlen nach wie vor qualifizierte Beratungsangebote für wohnungssuchende Geflüchtete und ihre Wohnungsgeber*innen, die Hilfe bei der Bewerbung leisten (WBS-Antrag, Schufa-Auskunft, Nachweis Mietschuldenfreiheit usw.) und mit Behörden, Geflüchteten und Wohnungsgeber*innen das Zustandekommen des Mietvertrags und der Mietübernahme begleiten.
Ausführliche Lösungsvorschläge für den Zugang zu Wohnungen statt Hangars und Zelten haben wir in einem Forderungspapier zusammengefasst.[3]
2) Eine funktionierende Ausländerbehörde statt Terminchaos und verschleppter Erteilung und Verlängerung von Aufenthalts- und Arbeiterlaubnissen
Seit mehreren Jahren agiert das Landesamt für Einwanderung (LEA) im Katastrophenmodus. Verlängerungstermine gibt es erst Monate nach Ablauf der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, häufig sind für das betreffende Anliegen wochenlang gar keine Termine buchbar. Die Erreichbarkeit per Fax, Telefon oder E-Mail ist nicht verlässlich. Besonders eklatant ist die Situation für Asylsuchende und Menschen mit einer Duldung. Sie können online keine Termine buchen zur Verlängerung ihres Aufenthaltsdokuments oder die Erlaubnis zur Aufnahme einer Beschäftigung. Anträge per E-Mail bleiben häufig monatelang ohne Antwort. Vor Ort werden Vorsprechende ohne Termin auch in dringenden Fällen regelmäßig von der Security abgewiesen. Die Folgen sind Arbeitsplatzverlust, die Unterbrechung von Sozialleistungen, Mietzahlungen und Krankenversicherungsschutz, Probleme und ggf. Strafanzeigen wegen illegalen Aufenthalts bei Polizeikontrollen und vieles mehr.
In Anbetracht dessen, dass künftig auch die Einbürgerungsanträge beim LEA bearbeitet werden sollen, brauchen wir dringend eine Digitalisierungsoffensive, um alle Anträge online zu stellen und alle erforderlichen Dokumente online einreichen zu können. Der Zugang zur Behörde muss auch bei spontanen Vorsprachen ohne Termin ermöglicht werden. Nötig ist zudem eine Beratungspflicht der Mitarbeiter:innen zu fehlenden Unterlagen und Möglichkeiten der Verbesserung des Aufenthaltsstatus.
Wir fordern die Ausgliederung des LEA aus dem Innenressort und schlagen vor, die Behörde bei der für Arbeit, für Integration oder für Justiz zuständigen Senatsverwaltung anzusiedeln. Nur so kann langfristig eine statt an polizei- und ordnungsbehördlichen Maßstäben an der Idee einer modernen, auf gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion ausgerichteten Einwanderungsstadt Berlin orientierte Behördenkultur etabliert werden.
3) Kinder- und jugendrechtskonforme Betreuung und Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen
Derzeit werden neu ankommende unbegleitete minderjährige Geflüchtete in überfüllten Unterkünften mit eingeschränkter Betreuung untergebracht. Nun soll nach dem Willen der Senatsjugendverwaltung das Absenken jugendhilferechtlicher Standards für Geflüchtete ab 16 Jahren verstetigt werden. Dies stellt eine gegen die Standards des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) verstoßende rechtswidrige Diskriminierung nichtdeutscher Kinder und Jugendlicher dar. Wir fordern eine Gleichbehandlung aller Kinder und Jugendlichen in Berlin, die nach dem SGB VIII vorgeschriebene Sicherung der im Einzelfall erforderlichen Jugendhilfe auch über den 18. Geburtstag hinaus, eine kind- bzw. jugendgerechte rechtskonforme Unterbringung und Betreuung und eine langfristige Planung statt chaotische Ad-hoc Maßnahmen.
4) Recht auf Schule – auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche
Mindestens 1.600 geflüchtete Kinder und Jugendliche warten in Berlin seit vielen Monaten auf einen Schulplatz. Weitere sind nicht einmal auf einer Warteliste erfasst, weil ihnen in Massenunterkünften wie im Flughafen TXL oft niemand bei der Schulanmeldung hilft. Das Grund- und Menschenrecht auf Bildung und die Schulpflicht werden systematisch verletzt. Wir fordern ein berlinweites nachhaltiges Konzept zur Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher, das auf die Gegebenheiten und Bedarfe der Schüler:innen flexibel und kreativ reagiert und das in der Verfassung von Berlin garantierte Recht auf angemessene Schulbildung für alle unabhängig von Herkunft, Sprache und Aufenthaltsstatus umsetzt.
5) Ausschöpfung aller landesrechtlichen Spielräume für humanitäre Bleiberechtsregelungen statt menschenunwürdiger Abschiebungen
Berlin hat zahlreiche Möglichkeiten, aufenthaltsrechtliche humanitäre Bleiberechtsregelungen für Geflüchtete auf Landesebene großzügig umzusetzen. Bewiesen hat der Senat dies u.a. bei der Regelung für Drittstaater:innen aus der Ukraine.[4] Auch der Winterabschiebestopp war ein wichtiger Schritt. Allerdings bleibt Berlin immer noch weit hinter seinen Möglichkeiten zurück, was das Ausschöpfen von Ermessenspielräumen beim Bleiberecht angeht. Wir fordern insbesondere einen sofortigen Abschiebestopp für Menschen mit Behinderungen, psychischen oder chronischen Erkrankungen. Wir fordern einen sofortigen Stopp der Praxis der Familientrennungen und der Polizeigewalt bei Abschiebungen sowie eine Weisung an die Polizei, bei Polizeieinsätzen stets vorrangig das Kindeswohl zu beachten.
Pressekontakt: Flüchtlingsrat Berlin, Tel: 030-22476 311, E-Mai: buero@fluechtlingsrat-berlin.de
[1] Aufnahmeregelung für afghanische Schutzsuchende mit Verwandten in Berlin, www.berlin.de/einwanderung/ueber-uns/aktuelles/artikel.1291052.php
[2] Wohnverpflichtung für Asylsuchende in Aufnahmeeinrichtungen aufgehoben, Pressemitteilung SenIAS 26.01.2023, www.berlin.de/sen/ias/presse/pressemitteilungen/2023/pressemitteilung.1288274.php
[3] 25.11.2022: Wohnungen statt Zelte und Hangars – Organisationen legen umfangreiche Lösungsvorschläge vor: www.fluechtlingsrat-berlin.de/wohnungen_statt_zelte_und_hangars