Nicolas Chevreux berät Geflüchtete mit Angehörigen in griechischen Lagern. Vorschriften machten Familienzusammenführungen fast unmöglich, sagt er.
taz: Herr Chevreux, Sie sind Asylverfahrensberater bei der Awo Berlin-Mitte und beraten unter anderem Geflüchtete, die von Angehörigen getrennt sind. Kommt das oft vor?
Nicolas Chevreux: Ich habe quasi täglich mit solchen Fällen zu tun. Viele Menschen werden im Zuge ihrer Flucht getrennt.
Was können Sie tun?
Zunächst muss man wissen: Es gibt rechtlich zwei Möglichkeiten, Familienangehörige nach Deutschland zu holen. Beim „Familiennachzug“ geht die Person, die herkommen möchte, zur deutschen Botschaft in ihrem Land. Sie sagt: Mein Kind, mein Ehemann, meine Mutter hat einen Schutzstatus in Deutschland. Aufgrund des Aufenthaltsgesetzes kann die Person dann ein Visum beantragen. Der zweite Weg ist die „Familienzusammenführung“ nach der EU-Dublin-III-Verordnung. Die gilt aber nur für Familienangehörige, die schon in einem EU-Land sind. Dann muss zum Beispiel Griechenland einen Aufnahmeantrag an Deutschland stellen, damit die Flüchtlinge zu ihren Verwandten hierherkommen können. Hintergrund ist, dass die Asylverfahren einer Familie in einem Land durchgeführt werden sollten.
Das macht Sinn!
Ja, durchaus.
Wie gut klappt das, Angehörige aus Griechenland hierherzuholen?
Es ist selten, dass ich Erfolg habe. Früher wurde etwa die Hälfte der Übernahmeanträge aus Griechenland vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bamf, abgelehnt, inzwischen 80 bis 85 Prozent (siehe Text rechts, Anm. d. Red.). Und die angenommen werden, hatten fast alle erst nach einer Remonstration, also einer Beschwerde, Erfolg. Interessant ist auch, dass Anträge aus anderen EU-Staaten, etwa Schweden oder Niederlande, viel öfter angenommen werden als aus Griechenland.
Wie werden die Ablehnungen begründet?
Oft wird gesagt, dass die Verwandtschaft zwischen den Personen nicht belegt ist. Weil es zum Beispiel keine Geburtsurkunde gibt oder die Menschen aus Ländern kommen, wo die Dokumente sehr leicht zu fälschen sind. Das Bundesamt hat oft Zweifel an der Echtheit von Dokumenten, etwa aus Afghanistan.
Was gibt es noch?
Viele Geflüchtete haben ihre Dokumente nicht übersetzt. Auf Lesbos ist es aber schwierig, eine Übersetzung, sagen wir von Farsi ins Deutsche, zu bekommen. Das Bamf lehnt auch solche Anfragen ohne beglaubigt übersetzte Dokumente ab. Ob das rechtlich geht, ist meines Wissens strittig. Aber so passiert es. Strittig sind auch Fälle, wo es nicht um direkte Familie geht, wie Eltern und Kinder, sondern um abhängige Personen, auf die ein Verwandter in Berlin aufpassen kann und möchte: etwa den behinderten Cousin oder die schwer traumatisierte Tante. Da muss man die Verwandtschaft nicht unbedingt beweisen, das geht ja auch gar nicht. Aber dann muss man zeigen, dass der Fall besonders schwer ist. Solche Anträge werden vom Bamf aber fast immer abgelehnt, die besondere Schwere des Falls wird nicht gesehen.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht ein schwerer Fall?
Nehmen wir Frau A., eine Klientin aus Afghanistan, die ich betreue. Sie ist 29 Jahre alt, lebt seit einiger Zeit in Berlin, ist als Flüchtling anerkannt, hat Arbeit und Wohnung. Ihr Vater, Herr B., hat nur ein Bein und lebt alleine im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Es ist ja bekannt, dass die Umstände dort schon für Gesunde sehr schwierig sind. Aber wenn man behindert ist, ist das Leben dort noch viel schwieriger. Das haben wir dem Bamf so geschrieben, aber der Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, dass Herr B. „keine besondere Härte“ sei.
Was können Sie machen?
Man kann klagen gegen das Bamf. Es gibt aber nur wenige Anwälte in Deutschland, die solche Fälle übernehmen, und nur wenige Klagen haben Erfolg. Das Problem ist natürlich, dass der Kläger in Griechenland sitzt, auf Lesbos aber nur schwer Zugang zu Rechtsberatungen und -beistand hat.
Sie haben selbst zweimal ehrenamtlich in Moria gearbeitet. Wie funktioniert das dort?
Es gibt mehrere NGOs, die dort Rechtsberatung anbieten. Ich selbst habe für eine deutsch-griechische Organisation namens European Lawyers in Lesvos gearbeitet. Vormittags haben wir im Lager beraten, nachmittags in einem Büro in der Stadt Moria. Aber das alles war vor Corona. Jetzt ist es noch viel schwieriger: Die Beratungen finden nach meiner Kenntnis nicht mehr in Moria, sondern nur noch in der Inselhauptstadt Mytilini statt. Das erschwert den Zugang zu Beratungen erheblich.
Auch wenn die griechische Regierung inzwischen verstärkt Flüchtlinge von den Inseln aufs Festland bringen lässt, sind die Inselcamps weiter hoffnungslos überfüllt. Im größten Lager Moria auf Lesbos, das für 3.000 Menschen ausgerichtet ist, sollen sich derzeit rund 15.000 befinden, zeitweise waren es über 20.000. Nach Aussage von Berliner Hilfsorganisationen, die auf den Inseln aktiv sind, machen sich derzeit wieder vermehrt Geflüchtete illegal über die „Balkanroute“ auf den Weg nach Deutschland. Der Flüchtlingsrat Berlin hat kürzlich ein paar Fälle mit Berlin-Bezug vorgestellt, darunter den von Frau A.und ihrem Vater (siehe Interview).Unverständlich scheint auch der Fall von Ahmed* (19) in Berlin und seinem Bruder Omar* (17) auf der Insel Samos. Obwohl laut Artikel 8 der Dublin-Verordnung für minderjährige Antragsteller das EU-Land zuständig ist, in dem sich volljährige Verwandte aufhalten, lehnte das Bamf den Fall laut Flüchtlingsrat ab. Die Brüder vermuten, dass das Amt abwarten will, bis Omar volljährig ist. Dann wäre die Familienzusammenführung noch schwieriger. Die NGO Equal Rights Beyond Borders will laut Flüchtlingsrat Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlegen. (sum)
Wie kommen die Leute denn zu Ihnen?
Grundsätzlich müssen die Leute im Chaos des überfüllten Lagers von sich aus den Weg zu uns finden. Die griechischen Behörden, die die Asylanträge bearbeiten, haben keine Zeit für Beratung, etwa welche Papiere die Leute für eine Familienzusammenführung brauchen. So habe ich den Vater von Frau A. kennengelernt. Er kam in Moria in unsere Beratung und fragte, wie er zu seiner Tochter nach Berlin kommen könnte. Der Kontakt war einfach, weil Frau A. Deutsch spricht. Ich konnte sie anrufen und später, als ich zurück war, in Berlin treffen. Wir haben die Dokumente zusammengesammelt, dann hat der Vater sie in Moria abgegeben, und die griechischen Behörden haben die Übernahmeanfrage an Deutschland gestellt. Da fällt mir ein: Grundsätzlich gibt es bei diesem Prozedere übrigens noch ein schwerwiegendes Problem.
Welches?
Bei einer Familienzusammenführung dürfen zwischen Einreise in die EU und Aufnahmegesuch nur drei Monate liegen. Das ist schwierig bei den Umständen in Moria, wenn man die Unterlagen nicht hat, die Informationen, wo man hingehen muss, die Übersetzungen von Dokumenten. Wir hatten schon oft Fälle, wo die Frist versäumt wurde. Im Ausnahmefall bei besonderen Härten kann die Anfrage zwar auch verspätet kommen – aber solche Anträge werden eigentlich fast immer abgelehnt.
Herr A. war aber nicht zu spät?
Nein. Er kam im Dezember 2019 auf Lesbos an, Anfang Februar haben wir den Antrag gestellt.
Was macht das mit den Menschen? Wenn Sie ihnen sagen müssen, das wird nichts mit der Familienzusammenführung?
Ach! Es ist schon schrecklich, wenn ich jemandem erklären muss, dass sein oder ihr Asylantrag abgelehnt wurde – die Leute weinen und jammern. Aber wenn ich sagen muss, dass der Ehepartner, die Kinder nicht nachkommen kann – das zerstört die Menschen. Das ist die schlimmste Situation, die ich in meiner Beratungsarbeit habe. Aber die Leute geben nicht auf: Ich haben den Eindruck, dass viele sich illegal auf den Weg aufmachen.
Und dann?
Sie können hier einen Asylantrag stellen. Das triggert dann die Dublin-Verordnung, sie haben ja schon einen Antrag in Griechenland laufen. Sie können auch abgeschoben werden, aber das passiert nicht so oft. Im vorigen Jahr sind um die 150 Menschen aus Deutschland zurück nach Griechenland abgeschoben worden. Also, das Risiko gibt es, aber die Menschen versuchen es. Und immerhin: Deutschland trennt selbst keine Familien. Wenn also der Teil, der schon länger in Deutschland ist, hier bereits einen Aufenthaltstitel bekommen hat, kann auch der andere Familienteil unter manchen Voraussetzungen hierbleiben, selbst wenn er illegal aus Griechenland hergekommen ist.
Kennen Sie Fälle, wo das geklappt hat?
Ja. Das bedeutet also, die Situation ist am Ende dieselbe, egal ob die Leute legal oder illegal hierherkommen. Aber für die Familien ist das ganze Prozedere reine Zeitverschwendung, teuer und gefährlich. Dazu kommen die Schmerzen der oft jahrelangen Trennung. Die gleichen Tragödien sehen wir übrigens beim Familiennachzug. Wir versuchen ja auch Menschen aus Nigeria, Eritrea oder anderen Staaten nachzuholen. Wenn das nicht klappt, machen sie sich auch allein auf den Weg. So haben wir schon Menschen in unserer Beratung gehabt, die erzählten, ihr Ehepartner oder Kind sei im Mittelmeer ertrunken.