Guter Bildungsstand, erfolgreiche Karrieren: Eingewanderte aus dem Iran gelten in Deutschland als „besonders gut integriert“. Aber was genau heißt das eigentlich?
Frankfurt – Am Morgen ruft ein Iraner an. Er ist der erste an diesem Wintertag und nicht der letzte. Der junge Mann ist gerade erst von der belarussischen Grenze über Polen nach Brandenburg geflohen. Weder weiß er, wo er einen Anwalt findet, noch wie und wo er sein neues Leben beginnen kann. Deshalb ruft er Hamid Nowzari an, Geschäftsführer des Vereins Iranischer Geflüchteter. In dessen Büro in Berlin-Neukölln stapeln sich Bücher und Papiere – und immer wieder klingelt das Telefon. Seit 1991 berät Nowzari mit seinem Team Iraner:innen und Afghan:innen, die neu nach Deutschland kommen. Es sind viele.
„Kein Krankenhaus und kein großes Architekturbüro in Deutschland mehr ohne Iraner“, spitzt Nowzari scherzhaft zu, wie er die Integration von Iraner:innen einordnet. So in etwa lautet auch die weit verbreitete und zuweilen von Politikern geteilte Einschätzung von Iraner:innen in Deutschland: Sie haben fast keine sozialen Probleme und sind entweder Arzt oder Ingenieurin. Sie gelten als gebildet, erfolgreich und säkular. In Deutschland leben laut Angaben des Statistischen Bundesamts weit über 180 000 Iraner:innen. Dabei fallen Personen aus der zweiten Generation von amtlicher Seite bereits aus der Zählung.
Gibt es etwas per se iranisches, dass die Integration dieser Menschen erleichtert oder ist der Ruf eine Übertreibung? Welche Gemeinschaft wird der Iraner vorfinden, der gerade in Brandenburg angekommen ist?
Für Nowzari, angegrauter Schnurrbart und flinke Bewegungen, gibt es eine Erklärung für das, was viele dieser Menschen verbindet: „Es war bisher die gebildete Ober- und Mittelschicht, die nach Deutschland kam“, sagt er. 1979 kam es zu einem großen Umbruch in Iran. Eine landesweite Revolution beendet die Monarchie. Schließlich übernehmen konservative Geistliche unter Führung von Ruhollah Chomeini die Macht und setzen eine autoritäre schiitische Theokratie durch, die bis heute besteht. Ehemalige Verbündete werden zu Staatsfeinden erklärt, viele Menschen fliehen aus ihrer Heimat. 1980 beginnt ein acht Jahre andauernder Krieg zwischen Iran und Irak, der über eine Million Menschen das Leben kostet und viele zur Flucht zwingt. Eine weitere Welle politisch erschütterter Menschen geht Mitte der 90er Jahre, als vielversprechende Reformvorhaben brutal verhindert werden und es zu den sogenannten Kettenmorden an oppositionellen Intellektuellen kommt. Ende 2010 folgt dann ein Braindrain junger Menschen aus bildungsnahen Schichten, nachdem die landesweiten Proteste von 2009 im Iran blutig niedergeschlagen wurden. Bis heute ist die politische Situation die häufigste Fluchtursache für Menschen aus dem Iran.
Integration kann vieles meinen, manche sprechen von vollständiger Anpassung, andere von der Aneignung bestimmter Einstellungen und Fertigkeiten wie der Sprache. Bei Iraner:innen wird oft der Bildungshintergrund als Anzeichen für eine gelungene Integration in die Mehrheitsgesellschaft aufgeführt. Zu den Beispielen der integrierten Iraner:innen gehört der Politiker Omid Nouripour, neuer Co-Parteichef der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Er wurde 1975 in Irans Hauptstadt Teheran geboren und flüchtete im Alter von dreizehn Jahren mit seiner Familie nach Frankfurt am Main. 1996 wird er Mitglied bei den Grünen, studiert unter anderem Philologie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft und wird 2006 erstmals Bundestagsabgeordneter.
Das gesellschaftliche Ansehen spielt eine große Rolle
Ein Jahr später veröffentlicht Nouripour ein Buch über Integration in Deutschland. Darin beschreibt er Integration als einen wechselseitigen Prozess und plädiert für bessere Jobmöglichkeiten für Eingewanderte. Sein Blick gilt dabei nicht nur dem, was Migrant:innen für ihre Integration tun sollen, sondern auch dem, was die deutsche Gesellschaft leisten muss. Über das Bild der erfolgreich integrierten Iraner:innen sagt er im Gespräch: „Die These stimmt so nicht mehr.“ Sie gehe auf Kosten anderet migrierter Personen. Außerdem sei Bildungsaffinität keine iranische Angelegenheit, sie sei keine Frage von Nationalität, sondern von Demografie. „Es gibt auch eine Reihe von Personen aus Iran mit erheblichen Integrationsproblemen. Das wird durch so eine These einfach weggewischt.“
DER „MODEL-MINORITY MYTH“
Der „Model-Minority-Myth“ – auf deutsch etwa mit „Vorzeige-Minderheiten-Mythos“ zu übersetzen, ist eine gesellschaftlich weit verbreitete Einwanderungs- erzählung. Der Begriff stammt aus dem US-amerikanischen Diskurs, wird aber vermehrt auch in anderen Ländern angewendet.
Anders als viele andere Erzählungen , verwendet der Mythos „positiv“ gemeinte Stereotype, um bestimmte Personengruppen als besonders gut integriert darzustellen.
Was auf den ersten Blick nicht unbedingt problematisch scheinen mag, ist bei näherem Hinsehen eine problematische Denkweise, da dabei diverse Menschengruppen auf klassistische – meist auf Produktivität und wirtschaftliche Leistungsfähgikeit bezogene – Merkmale reduziert werden.
Auch wird der Mythos genutzt , um verschiedene Migrant:innengruppen gegeneinander auszuspielen – als bestünde nur ein begrenzter Raum für die Akzeptanz im Einwanderungsland. FR
Dass die Situation sich verändert, sehen Nowzari und auch der Iranexperte Sören Faika. Er gründete und leitet seit 2009 die Deutsch-Iranische Beratung in Hamburg. „Der Ruf, der Iranern und Iranerinnen vorauseilt, ist veraltet. Sie müssen inzwischen viel mehr um Ansehen und Bedeutung kämpfen“, sagt Faika. „Dieser Erfolgsdruck, der damit einhergeht, ist gigantisch. Ich habe Menschen daran zerbrechen sehen.“ Bei Erfolgsdruck geht es gewonnenes Ansehen.
Die Soziologin Sahar Biglu hat untersucht, weshalb Iraner:innen in der zweiten Generation als erfolgreich gelten. „Integration ist nur ein Teil des Erfolgs“, sagt sie. Erfolg hieße unter Iraner:innen oft, einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen. „Bildung bedeutet Arbeit, Prestige und Luxus“, sagt Biglu. Wer sich für Berufe wie Arzt, Anwalt oder Ingenieur qualifiziere, genieße Ansehen, verdiene Geld. „Die gesellschaftliche Geltung ist mit am wichtigsten unter Iranern“, sagt Biglu. Diese Einstellung passe zur Leistungsmentalität in Deutschland.
Der Druck macht sich über alle Generationen hinweg bemerkbar, weiß Hamid (Name geändert, Anm. d. R.) aus eigener Erfahrung. Er musste dem Wunsch seiner Eltern widerstehen, die wollten, dass er Medizin studiert Bei der Generation seiner Eltern rührt der Druck auch daher, dass es schwierig war, die in der Heimat erworbenen Bildungsabschlüsse in Deutschland anerkennen zu lassen. Daher stammen die Geschichten von iranischen Taxifahrern mit Doktortiteln oder der Juristin als Copy-Shop-Besitzerin. Hamid lebt in Köln und ist in der Ausbildung zum Therapeuten. „Ich weiß nicht, ob es objektiv stimmt, dass Iraner besser integriert sind“, sagt der 25-Jährige. Auffällig ist für ihn, welch hohen Stellenwert Sozialprestige im Iran wie auch unter Iraner:innen in Deutschland hat. Der Wunsch, angesehene Berufe zu ergreifen, um materiellen Wohlstand zu erlangen, sei weit verbreitet.
Der Erfolgsdruck wirkt sich auch auf der Verhältnis von Iraner:innen untereinander aus. Shoan Vaisi ist im Landesvorstand der Partei Die Linke NRW, er ist Sozialarbeiter und ehemaliger Ringer. Der gute Ruf, der Iraner:innen vorauseilt, verstärke ausgrenzende Tendenzen unter Migrant:innen unterschiedlicher Herkunft. „Einige iranische Geflüchtete wollen sich von anderen abheben“, sagt Vaisi. Iran ist ein Vielvölkerstaat und Perser sind nur eine Ethnie unter vielen. Vaisi, selbst iranischer Kurde, sagt, viele Perser fürchteten als Araber:innen wahrgenommen zu werden. Einmal, weil sie es ethnisch nicht sind, aber auch weil teilweise anti-arabische Ressentiments aus Iran mitimportiert werden. Außerdem bezeichnen sich manche persischen Iraner selbst als „arisches Volk“ und leiten aus dieser Haltung eine ideologische Beziehung zum deutschen „Brudervolk“ ab.
Hierarchiekonflikte unter Migrant:innen werden an anderen Stellen ebenfalls sichtbar. Die meisten Exiliranerinnen tragen kein Kopftuch. Was es heißt, dies doch zu tun, hat die 34-jäjirge Paria Mahrokh erlebt. Ihre Eltern kamen aus dem Iran nach Deutschland, Mahrokh wuchs in Bonn auf. Sie tritt seit 2019 als Fechterin für den Iran an und wenn sie mit dem iranischen Team unterwegs ist, muss sie sich an dessen Regeln anpassen. Das bedeutet: beim Wettkampf Kopftuch tragen. „Es ist so krass, wie abwertend manche einen behandeln, wenn man plötzlich ein Kopftuch trägt – es ist wirklich grenzwertig“, erzählt sie. Exiliraner:innen sind oft säkular und sogar islamkritisch eingestellt. Das hat damit zu tun, wie die Religion im Iran politisiert und ausgenutzt wurde und das Land verändert hat. Die antiarabischen und islamkritischen Haltungen in ihren extremen Version sind für Vaisi eine mögliche Erklärung, für iranisch-stämmige Politiker bei einer rechtspopulistischen Partei wie der AfD. Diese wollen sich dazu allerdings nicht äußern: Eine Anfrage an einen Wahlkreiskandidaten blieb unbeantwortet.
Noch etwas trägt dazu bei, dass sich der Ruf von den besser integrierten Iraner:innen trotz Veränderungen hartnäckig hält. „Iraner:innen gelten als weißer im Vergleich zu anderen Migrant:innen“, sagt Sanaz Azimipour. Sie ist Mathematikerin, Mitgründerin von MigLoom e.V. und Petitionsstarterin von „nicht ohne uns 14 Prozent“, einer Kampagne, die das Wahlrecht für alle in Deutschland lebenden Menschen fordert. Durch die Wahrnehmung von den „weißeren“ Iraner:innen entstünden rassistische Narrative von „besseren Migrant:innen“. Azimipour sträubt sich dagegen und auch gegen den Begriff der Integration, „da bekomme ich Gänsehaut von“, weil dieser Produktivitätsdruck provoziere und zu einer Voraussetzung für Rechte werde. „Niemand soll sich seine Rechte verdienen müssen“, sagt sie. Azimipour bevorzugt den Ausdruck Partizipationsprozess.
Es gibt keinen Dachverband für die iranische Diaspora
Die iranische Diaspora mit weltweit schätzungsweise fünf Millionen Menschen erinnert an ein in tausende Einzelteile zersprungenes buntes Glas. Allein in Deutschland gibt es mehr als 170 iranische Vereine. Im Gegensatz zu beispielsweise dem türkischen Dachverband, scheitert eine gemeinschaftliche Organisation. Es gebe bis heute keine einheitliche Opposition im Exil, sagt Iranexperte Sören Faika: „Die Diaspora ist politisch noch fragmentierter als die Gesellschaft in Iran“. Oft misstrauten sich Iraner:innen untereinander. Vor allem im Exil mache sich das bemerkbar, weil nicht immer klar sei, wer warum gegangen ist, welche Weltanschauung die Menschen haben und ob es nicht doch Spitzel unter den Exilant:innen gebe. Viele würden im Laufe der Zeit zu zynischen Beobachtern dessen, was im Iran passiert, schreibt der Autor Nicholas Kazvini-Gore in einer Studie. .
Die iranische Diaspora lebt von ihrer Vielfalt und leidet an ihren Differenzen. Das anzuerkennen, ist genauso wichtig wie mit der Exotisierung Irans zu brechen. Shahin (Name geändert, Anm. d. R.), iranischer Exiljournalist, erzählt von den „furchtbaren Fragen“, die ihm Deutsche gestellt hätten. „Habt ihr auch Supermärkte und Züge in Iran? Was denken die Leute denn, was Iran für ein Land ist!“ Er sagt: „Als Iraner ist man nicht überrascht über das Leben in Deutschland, weil vieles ähnlich ist.“ In beiden Ländern gebe es Bildungsstreben, Leistungsdruck und demografische Unterschiede. Durch eine genauere Betrachtungsweise und den Zuzug verschiedener Bevölkerungsgruppen aus Iran, stellt sich die Erzählung von den mustergültig integrierten Iraner:innen als das heraus, was sie vielleicht immer war: eine Ungenauigkeit. Auch der Iraner in Brandenburg wird nicht die eine Gemeinschaft kennen lernen, sondern viele verschiedene Gruppen. So, wie er es aus seiner alten Heimat kennt. (Lisa Neal)