Gräber auf der Reichstagswiese

5.000 Demonstranten nehmen an der Bestattungsaktion des „Zentrums für Politische Schönheit“ teil – und stürmen das Feld vor dem Bundestag.

 

BERLIN taz | Der Zaun fällt, als wäre er eine Streichholzkonstruktion. Kein Wunder, schließlich handelt es sich nicht um eine Polizeiabsperrung, sondern um einen Schutzzaun des Grünflächenamts für den Rasen vor dem Reichstag. Wenig später ist die Wiese vor dem Parlament bunt vor Menschen. Die ersten Demonstranten heben mit kleinen Schaufeln symbolische Gräber aus, stellen Holzkreuze und Kerzen auf – als mahnende Erinnerung an Tausende Flüchtlinge, die auf der Flucht nach Europa sterben.

Die Polizei schaut zunächst zu. Gut 5.000 Demonstranten sind ihrer Schätzung nach an diesem Sonntagnachmittag quer durch das Regierungsviertel bis vor das Kanzleramt gezogen, angeführt von dem Leichenwagen eines muslimischen Bestatters. Die Demonstration auf der Wiese sei „nicht vorgesehen und nicht zulässig“, sagt ein Polizeisprecher. Aber sie zu räumen sei angesichts der großen Menschenmenge „nicht machbar“. Nur das „Buddeln“ symbolischer Gräber wolle man unterbinden – „soweit es machbar ist“. Aber: Auch das gelingt vorerst nicht. Stattdessen entstehen Dutzende „Grabstätten“ auf der Wiese.

Am frühen Abend schreiten die Beamten doch ein. Die Polizei fordert die Demonstranten auf, die Bundestagswiese zu räumen. Die allermeisten kommen der Aufforderung nach, andere aber bilden Sitzblockaden. Die Beamten stellen den Zaun wieder auf, umzingeln die letzten Protestierenden und räumen nach und nach das Feld. Ein Polizeisprecher spricht von „einigen“ Festnahmen, wegen Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung.

Ursprünglich hatten Aktivisten des „Zentrums für Politische Schönheit“ ein symbolisches „Friedhofsfeld der Superlative“ auf dem Vorplatz des Bundeskanzleramts errichten und dort tote Flüchtlinge bestatten wollen. Diesen provokanten Plan hatten die Berliner Behörden – wenig überraschend – nicht genehmigt.

Eingriff in die „Kunstfreiheit“

„Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit“ wurden mehrere Auflagen erlassen: Der Protestmarsch durfte nicht bis auf den Vorplatz des Kanzleramts gehen, sondern musste kurz davor stoppen. Untersagt wurden der Einsatz eines Baggers und das „Mitführen von Leichen“. Wer einen Sarg zur Demo mitbringen wollte, musste diesen vorher in der Gerichtsmedizin überprüfen lassen.

Tatsächlich ließen die Organisatoren vom Zentrum für Politische Schönheit mehrere Holzsärge dort untersuchen. Ein Gerichtsmediziner habe sie inspiziert, versicherte der Polizeisprecher: „Da waren keine Leichen drin.“ Die Initiative kritisierte die Behördenauflagen als Eingriff in die „Kunstfreiheit“.

Am vergangenen Dienstag erregte die Initiative in Berlin schon einmal Aufmerksamkeit, als sie zur Begräbnisfeier auf einen Friedhof lud: Dort wurde nach Angaben der Organisatoren die Leiche einer im Mittelmeer ertrunkenen Syrerin beerdigt.

„Überschreiten moralischer Grenze“

Bundespräsident Joachim Gauck rief die Deutschen am Samstag zu mehr „Offenheit für das Leid des Anderen“ auf. Am ersten deutschen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung warb er um mehr Hilfe für Flüchtlinge. Bei der zentralen Gedenkfeier im Historischen Museum in Berlin sagte Gauck: „Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen. Auf eine ganz existenzielle Weise gehören sie nämlich zusammen – die Schicksale von damals und die Schicksale von heute.“

Die Bundesregierung hatte im vergangenen Jahr den 20. Juni zum Gedenktag für Flüchtlinge und Vertriebene erklärt. Er ist zugleich Weltflüchtlingstag.

Quelle: taz