Flüchtlinge: Kinder in Gefahr

Noch nie sind so viele Kinder und Jugendliche allein über das Mittelmeer geflohen. Wie gefährlich die Reise ist, zeigt der Tod Hunderter Flüchtlinge am Wochenende.

 

Sie sind jung. Sie sind allein. Und es werden immer mehr. Fast 6.900 Kinder und Jugendliche sind in den ersten fünf Monaten des Jahres bereits über das Mittelmeer nach Italien – ohne Eltern oder andere Begleitung. Das berichtet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR.

Carlotta Sami, Sprecherin des UNHCR für Südeuropa, sagte ZEIT ONLINE, der Anteil der Minderjährigen unter den Flüchtlingen steige dramatisch. Insgesamt seien inzwischen mehr als ein Drittel aller Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, Kinder unter 18 Jahren. Darin enthalten sind auch solche Kinder, die mit ihren Eltern reisen. Besonders stark aber stieg zuletzt die Zahl der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die über Libyen nach Italien wollten. Ihr Anteil ist im Vergleich zu den ersten fünf Monaten 2015 um 170 Prozent gestiegen.

 Auch andere Hilfsorganisationen beobachten diesen Trend. Flavio Di Giacomo, Sprecher der Internationale Organisation für Migration (IOM) in Rom, bestätigte gegenüber ZEIT ONLINE die hohe Zahl allein reisender Jugendlicher. Gemma Parkin, Sprecherin von  Save the Children in Großbritannien, sagte der Zeitung The Independent, ihren Mitarbeiter in Italien begegneten viele sehr junge allein reisende Flüchtlingskinder. „Wir haben Kinder von neun Jahren angetroffen, die ganz auf sich allein gestellt waren.“

Die einzige Chance

Warum aber machen sich so viele Jugendliche auf eigene Faust auf den weiten Weg? Parkin spricht von der wachsenden Verzweiflung der Menschen, die in den Flüchtlingslagern Nordafrikas und des Nahen Ostens leben müssten. Sie verlören zunehmend ihre Hoffnung auf die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen. „Die Menschen dort haben das Gefühl, dass es ihre einzige Chance ist, wenn sie sich auf die Reise machen. Wenn ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten begrenzt sind, dann schicken sie ihr ältestes Kind, meist einen Jungen im Teenageralter, damit es Arbeit findet und Geld zurückschickt“, sagt Parkin.

 Die Reise ist mit großen Gefahren verbunden. Sie beginnen nicht erst auf dem Meer. Schon im vergangenen Jahr wurden allein reisende Jugendliche an der Küste Libyens von Erpresserbanden erwartet. Ein jugendlicher Eritreer berichtete ZEIT ONLINE, er sei während seiner Suche nach einem Boot von einer solchen Bande gefangen genommen worden. Sie hätten ihn wochenlang eingesperrt und erst wieder freigelassen, nachdem seine Familie ein Lösegeld gezahlt hatte. Ähnlich erging es auch anderen Jugendlichen, die ZEIT ONLINE sprach. Nachdem sie sich freigekauft hätten, habe ihr Geld nur noch für den Platz in einem maroden Schlauchboot gereicht. Nichts deutet darauf hin, dass sich die Situation geändert hat.

Wie mörderisch die anschließende Überfahrt enden kann, zeigen die Zahlen des vergangenen Wochenendes. Bis zu 700 Menschen könnten nach Angaben des UNHCR in den vergangenen Tagen ertrunken sein, nachdem drei Boote gesunken waren. Das gute Wetter und die ruhige See hatten viele Flüchtlinge dazu bewegt, die gefährliche Überfahrt zu wagen. 13.000 Menschen wurden seit Wochenanfang von Marine- und Rettungsschiffen aus Seenot gerettet. Allein am Samstag waren es mehr als 650.

Trotz der Gefahr nimmt die Zahl der Flüchtlinge massiv zu, die die Überfahrt wagen. Sie steigt tendenziell schon seit drei Monaten, aber in der vergangenen  Woche gab es einen noch größeren Schub: Die Zahl hat sich im Vergleich zur Vorwoche fast verdoppelt.

Die allermeisten der Menschen, die sich von Libyen nach Italien aufmachen, stammen aus Nigeria, Gambia, Senegal, Guinea, Eritrea, Somalia und der Elfenbeinküste. Die Sorge, die Zahl der Syrer und Iraker könne hier nach der Schließung der Balkanroute wieder zunehmen, hat sich bislang nicht bestätigt. Die zentrale Mittelmeerroute gilt inzwischen als die tödlichste Flüchtlingsroute der Welt. IOM zählte im vergangenen Jahr mehr als 3.000 Ertrunkene. In diesem Jahr könnten es nun schon wieder weit über tausend sein.

von Karsten Polke-Majewski

Quelle: zeit Online