Pflegebedürftige Flüchtlingskinder müssen oft monatelang auf die Hilfen warten, die sie brauchen. Unterbesetzte Ämter sind ein Grund.
Es fällt Frau Z. sichtlich schwer, Kritik zu üben an dem Land, das sie und ihre Kinder aufgenommen hat. „Bedanken“ möchte sie sich zuerst bei Deutschland, sagt die Enddreißigern, die in der Kochnische ihres Zimmers im Flüchtlingswohnheim Tee aufsetzt: „Wir haben Essen und ein Dach über dem Kopf.“
Vor einem Jahr flüchtete Frau Z. mit ihren zwei Kindern, Hisham* (13) und Azize* (4), aus ihrer Heimat. Der Krieg im Kaukasus hat ihr Leben verändert. Im Winter 2001 hatte sich die Familie im Keller ihres Wohnhauses vor Bomben verstecken müssen. 14 Tage harrten sie dort aus. Hisham erkrankte dabei und fiel zwei Monate ins Koma. Als er erwachte, waren seine Arme und Beine gelähmt.
Gelähmt ist der Junge bis heute. Er leidet an epileptischen Anfällen und Schluckstörungen, beim Essen besteht Erstickungsgefahr. Hisham braucht Hilfe rund um die Uhr.
Barrieren im Wohnheim
Kein Problem in Deutschland – sollte man meinen. Doch in Berlin kam die Familie zunächst in ein Wohnheim, das nicht barrierefrei war. Wollte Frau Z. mit ihrem Sohn ins Gemeinschaftsbad, musste sie den 13-Jährigen treppauf tragen. Zu Behördenterminen nahm sie ihn im Kinderwagen der kleinen Schwester mit. Eine Kinderärztin brachte die Familie in Kontakt mit „Menschenkind“, der Fachstelle für pflegebedürftige Kinder des Humanistischen Verbands.
So stieß Benita Eisenhardt auf Hisham. Sie ist Expertin im Aufbau von Netzwerken für betroffene Kinder. Doch im Fall Hisham stieß sie an ungekannte Grenzen. „Monatelang“, so Eisenhardt, seien Anträge auf Hilfe unbearbeitet geblieben, telefonische Nachfragen blieben unbeantwortet. Eine kurzzeitig bewilligte Pflegehilfe sei bald wieder abberufen worden. Bis heute, fast ein Jahr nach seiner Einreise, ist Hisham nicht ausreichend versorgt. „Wir dachten, so etwas sei nicht möglich in Deutschland“, fasst Eisenhardt zusammen.
Doch Hisham ist kein Einzelfall: 42 Fälle betroffener Kinder und Jugendlicher, die teils monatelang vergeblich auf Hilfe warten, trugen allein die TeilnehmerInnen eines Fachaustauschs zusammen, zu dem „Menschenkind“ nach der Erfahrung mit Hisham im Dezember eingeladen hatte. Mitarbeiter von Flüchtlingswohnheimen, Jugendämtern und Gesundheitsdiensten, Beratungsstellen und Behindertenbeauftragte nahmen daran teil. Da nicht alle mit dem Problem befassten Stellen vertreten waren, könne die Zahl auch noch höher liegen, so Eisenhardt.
Ein Grund für die Probleme bei der Versorgung chronisch kranker oder behinderter Flüchtlingskinder sei, „dass die Bearbeitungszeit für die Bewilligung notwendiger Hilfen sich oftmals über Monate hinzieht“, heißt es in der Dokumentation des Fachgesprächs. Dies liege unter anderem an der Überlastung der MitarbeiterInnen der Leistungsstelle für Asylsuchende im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo). Zudem sei die Kommunikation zwischen den beteiligten Stellen oft schwierig und langsam: Auch bei den bezirklichen Gesundheitsdiensten etwa fehle es an Personal.
Ein weiteres Handicap, das die Fachleute feststellten, ist der Mangel an ausreichend breitem Fachwissen: Wer sich mit Asylrecht auskenne, wisse oft nichts über Pflege – und umgekehrt. Auch ist der Rechtsanspruch von Kindern wie Hisham auf Hilfe schwammig formuliert. Bei Flüchtlingen im Asylverfahren haben Sachbearbeiter Ermessensspielraum – etwa in der Beurteilung, welche Hilfsmittel „unabdingbar notwendig“ sind.
Besonders schutzbedürftig
„Eigentlich müssten pflegebedürftige Kinder schon beim ersten Gespräch im LAGeSo in ein besonderes Verfahren aufgenommen werden“, sagt Benita Eisenhardt – damit sie etwa direkt in barrierefreie Wohnheime und in Kontakt mit Beratungsstellen kommen. Denn als Minderjährige und Kranke gehören sie gleich doppelt zu den „besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen“. Tatsächlich hat Berlin für behinderte Flüchtlinge sogar eine Fachstelle eingerichtet: Doch auch die ist unterbesetzt.
Es sind deshalb vor allem drei Forderungen, die Benita Eisenhardt und die TeilnehmerInnen des Fachgesprächs stellen: Einzelfallmanager für die betroffenen Kinder, ein funktionierendes Hilfenetzwerk und ausreichend Personal in den beteiligten Beratungs- und Bewilligungsstellen.
Hisham bekommt mittlerweile Physiotherapie und hygienische Hilfsmittel. Ein Pflegebuggy für seine Mobilität wurde zwar zur Verfügung gestellt, die Kostenübernahme dann aber abgelehnt. Seine Mutter ist heute voll Bewunderung darüber, wie gut sich der deutsche Staat um Behinderte kümmert. Aber sie weiß auch um die Unterschiede, die er macht: „Wer hier Staatsbürger ist, darf sich glücklich schätzen“, sagt Frau Z. Schön wäre es, fügt sie hinzu, „wenn auch behinderte Flüchtlingskinder mehr Aufmerksamkeit bekämen.“
*Namen geändert
Source: taz.de