Sie kommen allein, sie werden allein gelassen

Wenig Essen, schlechte Betreuung: Hunderte unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind in Berlin nur notdürftig versorgt. Auch andere Städte kommen an ihre Grenzen.

Darauf haben die etwa 20 Jugendlichen einige Stunden gewartet: Sie stürzen sich auf die Bänke und Stühle und greifen sich ihre Teller, auf denen sich nun Nudeln mit Gemüse und Tomatensauce türmen und Salat mit Tomaten und Gurken. Bei der Hilfsorganisation Moabit hilft im Berliner Norden bekommen sie eine willkommene Abwechslung zu den Reisgerichten und dem Pide-Brot mit Käse, die sie sonst so oft essen. Das Essen verschwindet schnell von den Tellern, geredet wird wenig. Nach wenigen Minuten stapelt sich ein Turm aus Papptellern auf dem Tisch, die Jugendlichen springen auf, reden wieder lauter auf Farsi, Arabisch und Kurdisch. Nach und nach machen sie sich auf den Weg zurück – in eine Unterkunft der Stadt Berlin, aus der sie so schnell wie möglich raus wollen.

Sie alle sind ohne Eltern oder andere erwachsene Verwandte nach Deutschland gekommen. Und sie treffen dort auf ein überlastetes System. Es gebe in ihrer Unterkunft zu wenig und zu schlechtes Essen, keine neue Kleidung, kaum Lern- und Freizeitangebote, die Duschen und Toiletten seien verdreckt und zum Teil nicht nutzbar, beschweren sich die Jugendlichen. „Ich dachte, in Deutschland werden die Menschen respektiert“, sagt Mohammed*. Der 16-Jährige kam im September mit großen Hoffnungen nach Berlin, will hier studieren und seine Familie in Syrien von hier aus unterstützen. Er ist enttäuscht, wie der deutsche Staat ihn behandelt.

Auch die Senatsverwaltung sah Verbesserungsbedarf und sorgte für einen Catererwechsel. In der Unterkunft sei es vermehrt zu Vandalismus durch die Jugendlichen gekommen, teilt die Senatsverwaltung auch mit. Der Jugendhilfeträger Navitas, der die Unterkunft betreibt, räumt die Vorwürfe ebenfalls teilweise ein: Es habe anfangs Probleme bei der Taschengeldauszahlung gegeben, das Essen sei zu Beginn zu wenig abwechslungsreich gewesen.

„Die Jugendhilfe ist am Anschlag“, sagt Diana Henniges, Gründerin und Vorstandsmitglied von Moabit hilft. Sie warnt: „Wir dürfen die Standards nicht noch weiter absenken.“ Normalerweise hilft der Verein Flüchtlingen bei Fragen und verteilt Sachspenden. Seit wenigen Wochen bekocht sie auch regelmäßig unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Eigentlich wäre es die Aufgabe des Landes Berlin, sich um die Jugendlichen zu kümmern. Aber die Stadt scheint mit der Aufgabe überfordert zu sein. Die zuständige Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familien spricht selbst von einer „extrem herausfordernden Situation“. In Berlin wurden in diesem Jahr bislang 2.293 unbegleitete Jugendliche registriert – mehr gab es bislang nur 2015, als mehr als 4.200 minderjährige Flüchtlinge hier ohne Begleitung Schutz suchten.

Die Senatsverwaltung hat im letzten halben Jahr ihre Plätze in der Jugendhilfe auf fast 900 Plätze verachtfacht. Wöchentlich werden circa 80 neue Plätze für unbegleitete Kinder und Jugendliche geschaffen – immer noch viel zu wenig. Die Senatsverwaltung rechnet selbst nicht damit, dass sich die Situation kurzfristig entspannen werde.

In anderen Städten im Land sieht es ähnlich aus. Bremen stellt Zelte auf, um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unterzubringen. In Bochum, der zentralen Erstaufnahmestelle für ganz Nordrhein-Westfalen, werden die jungen Flüchtlinge in Turnhallen einquartiert. Doch: „Eine Unterbringung in Turnhallen entspricht nicht dem Kindeswohl“, sagt Helen Sundermeyer vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, kurz BumF. Nahezu alle Bundesländer seien ausgelastet.

 Mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereits hierher vor Putins Angriffskrieg geflüchtet, und seit dem Spätsommer steigt die Zahl derer, die aus Afghanistan, Syrien und der Türkei kommen, darunter eben auch Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern fliehen. Mitte Oktober versprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Städten und Kommunen, mehr Immobilien bereitzustellen. Doch es ist absehbar, dass auch das allein nicht reichen wird.

Was im politischen Sprachraum schnell technisch klingt, wenn von Inobhutnahme und Kapazitäten die Rede ist und Zahlen gegeneinander aufgerechnet werden, hat für die Jugendlichen konkrete Auswirkungen. In Berlin bekommt Mohammed das jeden Tag zu spüren. Zusammen mit 180 anderen minderjährigen Flüchtlingen lebt er in einer Unterkunft im Berliner Osten. Seit Mitte August ist das ehemalige Hostel zur Notunterkunft umfunktioniert.

So große Unterkünfte sind in der Jugendhilfe nicht vorgesehen, das weiß auch die Senatsverwaltung. „Die Unterbringung in solch einem großen Haus ist eine große Herausforderung“, sagt Kerstin Stappenbeck, Abteilungsleiterin Jugend und Kinderschutz der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familien. Eigentlich sind in der Jugendhilfe Plätze in kleinen Wohneinheiten vorgesehen, doch diese sind wegen des angespannten Wohnungsmarktes kaum zu finden. Auch findet die Senatsverwaltung nicht genug Träger, die kleinere Unterkünfte betreuen. Es fehlen Fachkräfte. Als Alternative zur Obdachlosigkeit bleibt der Senatsverwaltung nur, große Unterkünfte aufzumachen.

In dem Hostel in Berlin-Hohenschönhausen betreuen 42 Sozialarbeiter die 180 Jugendlichen, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Neues Personal zu finden, ist schwer, obwohl Berlin in seiner Verzweiflung seit diesem Jahr sogar fachfremdes Personal zulässt.

Das ist auch das Ergebnis einer kurzsichtigen Planungspolitik. „Fluchtbewegungen laufen in Wellen ab“, sagt Sundermeyer vom BumF. Dass die Zahlen wieder steigen, hätte man längst vorhergesagt, und dennoch hätten die Städte und Kommunen seit 2017 die Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge abgebaut. Wer als Sozialarbeiter in diesem Bereich gearbeitet hatte, suchte sich einen anderen Job. Deshalb können Länder und Kommunen ihre eigenen Auflagen jetzt nicht mehr einhalten. Beispiel Berlin: Statt wie empfohlen in Einzel- und Doppelzimmern, wohnen die Minderjährigen hier mit drei bis fünf Jugendlichen in einem Raum, Privatsphäre gibt es dort kaum.

Wer morgens in den Speisesaal der Unterkunft läuft, sieht Jugendliche in Jogginghosen auf Bänken sitzen und Pide mit Käse essen. Schmeckt nicht, eintönig und oft zu wenig, klagen viele Jugendliche. Die Senatsverwaltung hat das in der Vergangenheit schon einmal beanstandet, inzwischen den Caterer gewechselt. Die Klagen der Jugendlichen bleiben. „Die Beschwerden halten sich im Rahmen“, sagt dagegen der Caterer.

 Einige Jugendliche bleiben dennoch hungrig, deshalb kommen sie regelmäßig zu Moabit hilft, um sich satt zu essen und Diana Henniges von ihren Sorgen zu erzählen. Einige sagen, es gebe nicht einmal genug Trinkwasser. Anfangs hätten die Jugendlichen lediglich zum Mittagessen einen halben Liter bekommen. Es stehe rund um die Uhr Trinkwasser zur Verfügung, sagen hingegen Senatsverwaltung und der Jugendhilfeträger Navitas. Dennoch soll nun ein Wasserspender aufgestellt werden, teilte Navitas mit.

Es gab Startschwierigkeiten bei der Taschengeldausgabe, es gibt immer noch Sprachbarrieren, weil es zu wenige Mitarbeiter Farsi oder Dari beherrschen. Bis vor einer Woche gab es nicht einmal einen Sicherheitsdienst, der verhindert, dass Fremde zu den Jugendlichen hineingelangen. Die Sicherheit sei jedoch durch die Anwesenheit der Sozialarbeiter rund um die Uhr gewährleistet gewesen, teilt die Senatsverwaltung mit. Noch immer ist das WLAN schwach, neben dem Hunger macht sich deshalb auch noch Langeweile breit, denn die vom Senat angebotenen Aktivitäten wie Nähkurse, Deutschunterricht oder Ausflüge sind von den Plätzen begrenzt und reichen nicht für alle.

Und so verbringen die Jugendlichen ihre Zeit vor allem mit warten. Sie warten auf ihr Erstaufnahmegespräch. Mit ihm startet das sogenannte Clearing-Verfahren, in dem entschieden wird, welche Unterstützung die Jugendlichen brauchen. Danach werden sie langfristig auf die Bezirke verteilt, dort bekommen sie auch einen Vormund des Jugendamts zugeteilt. Doch die Clearing-Stellen in Berlin sind genauso überlastet wie die Erstaufnahmestellen, bis zu zehn Wochen müssen die Jugendlichen momentan auf einen Termin warten, sonst waren es nur drei bis fünf Tage. Nach dem Erstgespräch werden die Geflüchteten an die Bezirksjugendämter vermittelt, die genauso überlastet sind. Mit dem Erstgespräch bekommen die Kinder und Jugendlichen außerdem die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Nur fehlt es an Schulplätzen, weil es an Lehrern mangelt.

Nach dem Sozialgesetz müssen die Jugendlichen zudem das Clearing-Verfahren abgeschlossen haben, bevor sie vom Senat Kleidung bekommen können. Einige der Jugendlichen kommen deshalb zu Moabit hilft, um sich dort nicht nur warmes Essen, sondern auch warme Sachen für den Winter abzuholen. Ein Teil von ihnen läuft im Herbst nur mit Flip-Flops und kurzen Hosen herum. Manche tragen noch immer die Kleidung ihrer monatelangen Flucht.

*Name ist der Redaktion bekannt und zum Schutz der Minderjährigen geändert.

 

Quelle: Zeit