Start News Verzweifelte Ortskräfte in Afghanistan: Im Wartesaal

Verzweifelte Ortskräfte in Afghanistan: Im Wartesaal

Die Bundesregierung hat ihren afghanischen Ortskräften zugesagt, sie aus dem Land zu holen. Bis heute sitzt der Großteil aber in Afghanistan fest.

 

In Kundus sitzt ein Mann in seinem Haus und wartet auf eine E-Mail der Bundesregierung. Seit drei Monaten schon, von morgens bis abends. Etwas anderes, erzählt er am Telefon, gebe es für ihn ja nicht mehr zu tun. Sein Arbeitgeber, eine Hilfsorganisation, hat ihr Büro in der Stadt geschlossen und bezahlt ihn nur noch bis Ende November.

Raus auf die Straße traut der Mann sich kaum noch. Von seinem Leben in Afghanistan erwartet er sich nichts mehr. Was bleibt: der Blick aufs Handy und die Hoffnung auf eine Antwort aus Deutschland. Gmail auf, Posteingang leer, Gmail zu und dann wieder von vorne.

Den Namen des Mannes sollen wir an dieser Stelle nicht nennen; weil er für die Deutschen gearbeitet hat, fürchtet er die Rache der Taliban. Seine Situation dürfen wir aber beschreiben. Er hat sie der taz am Telefon geschildert und mit Unterlagen untermauert – mit Ausweisen, E-Mails und Arbeitsverträgen. Sie belegen: Bevor er bei seinem aktuellen Arbeitgeber anfing, arbeitete er bis Ende 2013 als Ingenieur für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ), den staatlichen deutschen Entwicklungsdienstleister.

Mit dieser Station im Lebenslauf ist seine Hoffnung, nach Deutschland zu kommen, eigentlich berechtigt. Die Bundesregierung hat Menschen wie ihm die Aufnahme in Aussicht gestellt: Als im Sommer der Westen seine Truppen abzog und die Taliban Kabul einnahmen, senkte sie nach und nach die Hürden für afghanische Ortskräfte, die sich nach Deutschland retten wollten.

Sie mussten nicht mehr wie früher individuell nachweisen, dass sie durch ihren Beruf gefährdet sind. Die Regierung ging nun davon aus, dass alle ihre Angestellten in Gefahr sind. Aufnahmezusagen gab es auch nicht mehr nur für Mit­ar­bei­te­r*in­nen der letzten beiden Jahre, sondern für alle, die seit 2013 für deutsche Stellen gearbeitet haben. Schon ab Juni galt das für die Ortskräfte des Verteidigungs- und des Innenministeriums, ab August dann auch für die aus dem Bereich des Außen- und des Entwicklungsministeriums.

Keine Antwort auf Aufnahmeanträge

„Die Sorge um die afghanischen Mitarbeiter der GIZ ist groß“, sagte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) damals der Augsburger Allgemeinen. Er traue den Zusicherungen der Taliban nicht. Es werde bereits jetzt verfolgt und gemordet. „Unsere afghanischen Mitarbeiter brauchen unsere Unterstützung“, so Müller.

Noch heute können Ex-Ortskräfte Aufnahmeanträge stellen, „sofern das Be­schäftigungs­verhältnis nicht bereits vor 2013 endete“, schreibt die Bundesregierung auf ihren Internetseiten. „Ansprech­partner hierfür ist der frühere Arbeit­geber.“ Das Problem dabei: Vielen Betroffenen geht es wie dem Mann aus Kundus. Sie haben ihre Dokumente schon im August an die dafür vorgesehenen E-Mail-Adressen geschickt, aber teilweise bis heute keine Antwort erhalten – abgesehen von einer automatischen Eingangsbestätigung zu Beginn.

Betroffen sind offenbar vor allem Ortskräfte, deren Arbeitsverhältnis schon vor längerer Zeit endete. In einer Whatsapp-Gruppe haben sich Dutzende Menschen vernetzt, die zwischen 2013 und 2019 in Nordafghanistan für die GIZ arbeiteten und die seit Monaten in der Luft hängen. Sie geben sich Tipps zur Sicherheitslage, tauschen Nachrichten aus Deutschland aus und beraten, wie sie ihre Verfahren doch noch beschleunigen könnten.

Eine Liste von über 100 Mitgliedern und ihren ehemaligen Arbeitsstellen konnte die taz einsehen. Mit mehreren von ihnen konnten wir sprechen. Alle wollen anonym bleiben, ihre Angaben decken sich aber und ihre Unterlagen stützen ihre Aussagen.

Zusagen bislang nur unzureichend eingelöst

Da wäre zum Beispiel ein Mann, der bis 2017 für die GIZ gearbeitet hat. „Als ich im August gehört habe, dass uns Deutschland helfen wird, habe ich alles verkauft. Mein Haus, mein Auto, alles“, sagt er. Mit seiner Familie harre er jetzt in einem Hotel aus, solange das Geld reicht. Aus dem Gebäude wage auch er sich selten, und selbst drinnen habe er Angst.

Der Mann befürchtet: Spätestens seitdem er im August zu den Behörden gegangen ist, um Dokumente für seine Ausreise zu beantragen, müsse den Taliban bekannt sein, dass er mit Ausländern zu tun hatte. „Wenn die Taliban wollen, dann können sie jederzeit kommen und uns holen.“

Nun ist es natürlich nicht so, dass es mit einer Aufnahmezusage aus Deutschland getan wäre. Seit dem Ende der militärischen Luftbrücke im Sommer stecken auch etliche Ortskräfte im Land fest, die von den deutschen Behörden anerkannt sind. Die Landgrenze nach Pakis­tan kann zum Beispiel nur passieren, wer einen Reisepass und ein gültiges Visum für Pakistan hat. Den Weg zu den Taliban, die die Pässe ausstellen und die Grenzstationen kontrollieren, wollen viele aber nicht auf sich nehmen.

Vor zwei Wochen organisierte die Bundesregierung zwar erstmals ein eigenes Charterflugzeug für eine Evakuierung aus Kabul, dabei ist es bisher aber auch geblieben. Rund 22.000 Menschen hat Deutschland die Aufnahme zugesagt, noch nicht mal ein Drittel davon hat es bislang nach Deutschland geschafft. Der Weg raus aus Afghanistan sei das „Nadelöhr“, sagt ein Sprecher des Außenministeriums.

Einige frühere Ortskräfte harren in Nachbarländern aus

Allerdings: Einige der früheren Ortskräfte aus der Whatsapp-Gruppe haben es bereits geschafft, ohne Hilfe der Bundesregierung das Land zu verlassen. Sie harren jetzt in Nachbarländern aus und brauchen dort ihre Ersparnisse auf, obwohl sie jederzeit nach Deutschland fliegen könnten – wenn die Bundesregierung nur ihre Aufnahmeanträge bearbeiten würde.

In Pakistan sitzt zum Beispiel eine Frau fest, die von 2014 bis 2016 für ein Demokratieprojekt der GIZ gearbeitet hat. In einer Grenzregion im Norden Afghanistans bildete sie junge Ak­ti­vis­t*in­nen aus, die sich für Frieden, Demokratie und Menschenrechte einsetzten. In ihrem Aufnahmeersuchen an die GIZ schildert sie, dass sie deshalb Drohungen erhalten habe und bis heute erhält – per Telefon, über Social Media, über ihren Ehemann. Ihre Aktivitäten seien „antiislamisch“, so der Vorwurf. Sogar mit dem Tod habe man ihr gedroht.

Ihren Unterlagen hat sie auch ein Empfehlungsschreiben ihres ehemaligen Vorgesetzten bei der GIZ beigefügt. Er bestätigt, dass die Mitarbeiterin ihn 2016 über die Drohungen informiert habe. Gemeinsam habe man beschlossen, dass sie sich aus der ersten Reihe zurückzieht und den Arbeitgeber wechselt. „Aufgrund ihrer damaligen Tätigkeit ist ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit in Gefahr“, schreibt er.

Doch auch diese Frau hat bis heute keine Aufnahmezusage. Statt der Bundesregierung brachte eine Menschenrechtsorganisation sie Mitte September in einem Charterflugzeug nach Pakistan, wo sie aktuell mit ihrer Familie in einem Safe House lebt.

„Solche Fälle kenne ich auch, das kommt definitiv vor, und nicht nur bei Ortskräften der GIZ“, sagt Matthias Lehnert. Er ist Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Migrationsrecht und vertritt mehrere ehemalige Ortskräfte. Eines der Hauptprobleme aus seiner Sicht: Schon am 9. September hat die Bundesregierung die Regeln wieder verschärft.

Seitdem reicht es für eine Ausnahmezusage nicht mehr automatisch aus, dass eine Person für deutsche Stellen gearbeitet hat. Stattdessen prüft die Regierung wieder in jedem Einzelfall, ob aus der Tätigkeit eine individuelle Gefährdung folgt. Das senkt die Erfolgsaussichten – und zieht die Verfahren in die Länge. „Wie streng geprüft wird und wie lange es dauert, lässt sich pauschal nicht sagen“, sagt Lehnert. Eine Faustregel: Je länger die Beschäftigung her sei, desto länger könne es jetzt dauern.

Prüfung der „individuellen Bedrohungssituation“

Wo genau in der Bundesregierung sich der Flaschenhals befindet, ist mit Sicherheit dennoch nicht zu sagen. Eine Sprecherin der GIZ beteuert: „Unsere Kol­le­g*in­nen bearbeiten die sehr hohe Zahl bei uns eingehender Anfragen schnellstmöglich.“ Man selbst führe eine Vorprüfung durch, vor allem mit Blick darauf, ob die entsprechende Person tatsächlich für die GIZ gearbeitet habe. Dann gehen die Unterlagen weiter ans Entwicklungsministerium.

Dort, so ein Sprecher, prüfe man vor allem, ob sich die „individuelle Bedrohungssituation“ wegen der Tätigkeit für die Deutschen „vom allgemeinen Gefahrenniveau in Afghanistan abhebt“. Falls ja, gehe der Antrag „mit einer Begründung im Einzelfall an das Auswärtige Amt“. Wenn auch das Außenministerium Gründe für eine Aufnahme sieht, entscheidet schlussendlich das Innenministerium über eine Zusage.

Unklar bleibt, wie streng die Regierung das Risiko prüft und welche Belege sie sehen will. Die GIZ erklärt nicht, warum sie Anfragen nicht beantwortet. Und kein Ministerium will verraten, wie viele Anträge noch unbearbeitet sind und wie hoch die Ablehnungsquote ist.

Öffentlich zugängliche Zahlen zeigen nur, dass die Bundesregierung nach den Ende der militärischen Luftbrücke im August nur noch tröpfchenweise Zusagen erteilt hat. Laut der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Gökay Akbulut gab es im Oktober sogar eine Woche, in der über alle Ressorts hinweg nur eine einzige Person neu anerkannt wurde.

Währenddessen sitzen in Afghanistan und in den Nachbarländern Menschen in ihren Häusern fest, in ihren Hotels und in ihren Safe Houses, die für sie zum Wartesaal geworden sind. Ob irgendeine deutsche Behörde bei ihnen nachgehakt hat, inwiefern ihr Job sie in Gefahr gebracht hat? Ob jemand nach Beweisen gefragt hat?

Nein, antwortet ein Mann, der 16 Jahre für die GIZ als Fahrer gearbeitet hat, bevor er 2018 in den Ruhestand ging. Es habe wirklich niemand auf seine E-Mails aus dem August geantwortet und das GIZ-Büro vor Ort sei seitdem ja geschlossen. Aber die Taliban hätten heute seinen Sohn abgefangen. Sie hätten erst sein Handy durchsucht und ihn dann geschlagen. „Wir wissen nicht weiter“, schreibt er. „Was können wir hier noch machen?“

Quelle: taz