Eingesperrt und ausgeliefert: Corona in deutschen Flüchtlingsunterkünften

Georg Restle: „Kein ausreichender Schutz für besonders Schutzbedürftige? Das gilt nicht nur für Gefängnisse. In den letzten Wochen machten einige Flüchtlingsunterkünfte Schlagzeilen, weil sich dort das Corona-Virus rasant ausbreitete. Vor allem deshalb, weil die dort Lebenden kaum eine Chance hatten, sich ausreichend zu schützen oder auf Distanz zu gehen. In vielen zentralen Unterkünften und Aufnahmeeinrichtungen gibt es nämlich kaum eine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen. Jetzt gibt es schwere Vorwürfe, man habe am Corona-Virus Infizierte nicht wirksam von anderen Bewohnern getrennt und viele Flüchtlinge quasi ihrem Schicksal überlassen. Andreas Maus und Neila Doss sind den Vorwürfen nachgegangen.“

Die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge im schwäbischen Ellwangen. Die Polizei bewacht die Unterkunft rund um die Uhr. Seit dem 5. April steht sie unter Quarantäne, nachdem sieben Flüchtlinge positiv auf das Corona-Virus getestet wurden. Und jetzt, fast vier Wochen später? Von den 600 Geflüchteten sind jetzt nach offiziellen Angaben 406 mit dem Corona-Virus infiziert. Das sind 68 Prozent. Für die Bewohner eine Katastrophe. Viele seien nach vier Wochen Quarantäne verzweifelt, erzählt uns Rex Osa. Er ist vor Jahren selber nach Deutschland geflohen. Heute hilft er Geflüchteten, auch hier in Ellwangen.

Rex Osa, Refugees4Refugees (Übersetzung Monitor): „Die Situation in der Unterkunft mit Corona jetzt ist sehr schrecklich. Und es herrschen eine große Verwirrung, eine Menge Missverständnisse und eine enorme Frustration.“

Wir würden uns gerne selber ein Bild machen. Aber drehen dürfen wir in der Einrichtung nicht. Diese Videos stammen von Geflüchteten aus der Unterkunft. Sie zeigen, bis zu fünf Menschen sind in einem Zimmer untergebracht. Oftmals auf wenigen Quadratmetern wie hier – dicht an dicht. Und die Menschen teilen sich Toilettenräume und Gemeinschaftsduschen, erzählen sie uns. Wenn man hier lebe, sei Abstand halten kaum möglich. Beim zuständigen Regierungspräsidium in Stuttgart heißt es, man habe man alle nötigen Maßnahmen ergriffen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.

Thomas Deines, Regierungspräsidium Stuttgart: „Also wir haben in der Einrichtung eben verschiedene Isolierbereiche ausgewiesen, um die positiv getesteten von den negativen zu trennen.“

Dazu versorge man die Menschen mehrsprachig mit Informationen, mit Schutzmasken und Hygieneartikeln. Es werde häufiger gereinigt und das Essen werde in Paketen ausgegeben.

Thomas Deines, Regierungspräsidium Stuttgart: „Ich denke, aktuell haben wir die Situation im Griff, wir haben sehr stabilen Betrieb, wir können die Situation meistern dank der Unterstützung von ganz, ganz vielen Seiten.“

Die Situation im Griff? Die Zahl der Infizierten jedenfalls steigt weiter. Und die Menschen in der Unterkunft beschreiben ihre Situation ganz anders.

Sunday (Übersetzung Monitor): „Einige Leute sind positiv und andere negativ, warum leben wir hier immer noch zusammen?“

Daniel (Übersetzung Monitor): „Wir sind zu fünft in einem Raum. Vier sind positiv, einer ist negativ. Da habe ich denen gesagt, ich kann nicht mit dem Mann zusammen im Zimmer bleiben, ich bin positiv getestet, ich will ihn nicht anstecken. Aber ich sollte zurück in mein Gebäude.“

Keine Chance, der Infektionsgefahr aus dem Weg zu gehen? Die Aussagen können wir vor Ort nicht überprüfen. Beim Regierungspräsidium teilt man uns mit, man nehme die Sorgen der Menschen ernst. Nach wie vor seien negativ und positiv Getestete voneinander getrennt, Einzelfälle könne man nicht beurteilen. Doch Flüchtlingsunterkünfte mit hunderten Menschen seien ein idealer Nährboden für die Übertragung des Virus, sagt der Epidemiologe Oliver Razum.

Prof. Oliver Razum, Epidemiologe, Universität Bielefeld: „Sammelunterkünfte sind ein strukturelles Problem, wenn eine Pandemiesituation entsteht. Dort sind eine große Zahl von Menschen auf engem Raum zusammen und es ist kaum möglich, Abstand voneinander zu halten, so wie das eigentlich erforderlich wäre.“

Ellwangen ist kein Einzelfall: Bundesweit wurden mittlerweile etliche Flüchtlingsunterkünfte wegen Corona abgeriegelt.

Diverse Nachrichtensprecher: „Die Quarantäne für über 500 Flüchtlinge. Keiner wird nunmehr die Erstaufnahmeeinrichtung so verlassen.“ „289 Menschen stehen hier unter Quarantäne.“ „Die Infizierten bleiben erst mal in der Unterkunft.“

Proteste von verzweifelten Geflüchteten und Polizeieinsätze in den Heimen machen Schlagzeilen, wie hier in Halberstadt. Von zuletzt 566 Bewohnern wurden hier nach MONITOR-Informationen 122 positiv getestet. Auch in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Bremen ist die Situation angespannt. Hier wurden 146 Geflüchtete auf Corona positiv getestet. Der Bremer Flüchtlingsrat wirft der zuständigen Sozialbehörde Versäumnisse vor.

Gundula Oerter, Flüchtlingsrat Bremen: „Was wir hören, können sich die Bewohner innerhalb des Gebäudes nicht vor Corona schützen und sie können im Übrigen auch nicht die für alle gesetzlich geltenden Regelungen auf Abstand – die auch in Bremen verordnet sind – einhalten. Es ist ihnen schlichtweg nicht möglich.“

Auch hier bekommen wir keine Drehgenehmigung. Über Handy können wir mit der Asylbewerberin Pega aus Iran sprechen. Ihr Mann habe sich mit dem Corona-Virus infiziert und sei im Krankenhaus, sagt sie. Und sie habe gerade ein Baby zur Welt gebracht.

Pega (Übersetzung Monitor): „Körperlich geht es mir nicht so gut, und psychisch auch nicht. Ich bin vor zwei Wochen Mutter geworden.“

Und auch die Bedingungen in der Unterkunft seien für sie nur schwer zu ertragen. Videos von Flüchtlingen aus der Unterkunft. Sie zeigen, auch hier leben Menschen auf engem Raum zusammen. Einige Fenster in den Zimmern lassen sich offenbar nicht öffnen. Viele Zimmer sind nur durch Wände getrennt, die nach oben offen sind. So wie Pegas Zimmer.

Pega (Übersetzung Monitor): „Alle versuchen darauf zu achten, dass sie nicht krank werden und diese Krankheit auch nicht weitergeben. Aber es ist einfach hier nicht möglich, das umzusetzen.“

Die Bremer Sozialbehörde teilt auf Anfrage mit, man habe Maßnahmen getroffen und die erforderlichen Schutzstandards umgesetzt. Zum Beispiel werde wesentlich häufiger gereinigt. Die Belegung sei stark reduziert worden und man wolle nötige Umbauten vornehmen. Aber es sei leider nicht zu vermeiden,

Zitat: „dass eine hochansteckende Krankheit sich in einer Gemeinschaftseinrichtung schneller ausbreitet als in anderen Bereichen der Gesellschaft.“

Für Ramona Lenz von medico international ist klar, die Flüchtlinge müssen raus aus den Massenunterkünften.

Ramona Lenz, medico international: „Also die Corona-Pandemie führt uns gerade vor Augen, wie gesundheitsgefährdend es ist, Menschen für längere Zeiträume in Massenunterkünften unterzubringen. Und deswegen kann die einzige Konsequenz, die wir jetzt ziehen müssen, nur sein, die Menschen dezentral unterzubringen. Jetzt, während der Pandemie – aber auch langfristig.“

In diese Richtung weist auch ein aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig. Das gab der Klage eines Asylbewerbers statt, die Erstaufnahmeeinrichtung zu verlassen, da die Abstandsregelungen dort nicht eingehalten werden könnten.

 

Quelle: Monitor